Mittwoch, 08. Januar 2025
Niemals gut genug? Im Selbstoptimierungswahn dieser Zeit
Selbstoptimierung. Der Alltag, das Leben, die Menschen, die Gesellschaft, sie alle scheinen durchdrungen von ihr. Eine Zeiterscheinung? Ein Trend? Oder die Geisel dieser Zeit?
Besser werden, besser werden, besser werden. Beim Joggen die Zeiten messen, um die eigene Leistung zu verbessern. Die Ernährung in einer App tracken, um den Körper gesundheitlich zu optimieren. Im Job performen, um im Vergleich mit den Kollegen mithalten zu können. Potentielle Partner testen, um herauszufinden, ob es noch bessere gibt. Täglich meditieren, um den Körper perfekter zu entspannen. Private Coachings machen, um sich konstant weiterzuentwickeln.
Was macht es mit den Menschen, wenn sie sich ständig vergleichen und verbessern müssen? Wenn sie ein Wettrennen laufen, bei dem sie das Ziel niemals erreichen können? Wenn sie sich ständig verändern müssen, nur um der Veränderung Willen? Und wie gelingt es auszusteigen aus der Selbstoptimierungsspirale? Wie gelingt ein gesunder Umgang?
„Die Selbstoptimierung ist ein Religionsersatz geworden, wenn es darum geht die eigene Identität oder den Sinn im Leben zu finden.“
Ein Interview mit Dr. Christoph Augner von Ronja Goj, In: Pfarrbriefservice.de
Beim Joggen die Zeiten messen, um die eigene Leistung zu verbessern. Die Ernährung in einer App tracken, um gesünder zu leben. Im Job performen, um bei den Kollegen mithalten zu können. Besser, besser, besser werden. Selbstoptimierung. Die Gesellschaft, das Leben, der Alltag, sie scheinen durchdrungen von ihr. Was macht das mit den Menschen?
Dr. Augner: Ich bin nie am Ende. Es geht immer weiter. Ich erreiche leider nicht einmal einen Punkt, der wirklich zufriedenstellend ist, denn dann gibt es unmittelbar das nächste Ziel.
Veränderung scheint in dieser Zeit das einzige Credo, das einzige Dogma, die einzige Maxime zu sein.
Ein zentraler Aspekt bei der Optimierung ist, dass die Veränderung alles ist. Das ist ein Zeitgeistphänomen. Da gibt es diese wunderbaren Zitate dazu: „Das einzig beständige, ist die Veränderung." In jedem Vortrag findet sich das. Damit werfen die Leute um sich. Sich verändern zu müssen, ist ein Wert an sich.
Aber, wenn es in der Menschheitsgeschichte keine Veränderung, keine Weiterentwicklung gegeben hätte, würden die Menschen heute noch Bäume mit Äxten fällen.
Große Innovationen, viele Erfindungen sind daraus entstanden, dass Leute Probleme, Themen lösen wollten. Dass Menschen etwas tausendmal probiert haben, bis plötzlich etwas entstanden ist, was wirklich den Nutzen gebracht hat. Aber nicht dadurch, dass sie gesagt haben, dass es das Wichtigste ist, sich ständig verändern und weiterentwickeln zu müssen. Deshalb hat sich Columbus nicht in das Schiff gesetzt.
Das bedeutet?
Die Veränderung an sich als Wert zu sehen, das kennt die Menschheitsgeschichte erst sehr spät. Nur etwas zu verändern, um es zu verändern, damit kommen die Menschen nicht weiter.
Aber warum wollen sich die Menschen dann ständig verändern, weiterentwickeln, verbessern? Wo liegen die Wurzeln der Selbstoptimierung?
Das Thema „Optimierung“ kommt speziell aus der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts. Aus dem Ansatz des „scientific management“. Da haben die Menschen begonnen die Arbeitskräfte möglichst effizient einzusetzen. Es ist damals schon darüber gesprochen worden, wie viel ein Arbeiter zum Beispiel essen sollte, damit er die beste Leistung bringt. Damals war in Diskussion, dass es Pausen geben sollte, damit die Leistung besser wird.
Scientific Management – dieser Ansatz von damals scheint sehr aktuell.
Lustigerweise sind viele der Dinge, die am Ende des 19. Jahrhunderts passiert sind sehr ähnlich zu dem, wie wir uns heute in der Freizeit organisieren. Es sind Diskussionen, die sehr an diese Optimierungsdiskussion von heute andocken.
Aber ist es sinnvoll wirtschaftliche Systeme auf den Menschen zu übertragen?
Ich denke im Wesentlichen ist das Scientific Management in der Wirtschaft gut aufgehoben, auch wenn man es kritisieren kann. Es ist jedoch die Tendenz da, dass die Menschen dieses Konzept auf Lebensbereiche übersetzen, in denen ein effizienterer Mitteleinsatz wenig sinnvoll ist und in die das nicht passt. Und das wird den Menschen nur schwer bewusst, weil die Fehler, die dabei entstehen, nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind.
Zum Beispiel?
In der Kindererziehung, in der Pädagogik, im Freizeitbereich. Da wird es schwierig.
Warum machen die Menschen das? Kam irgendjemand irgendwann auf die Idee, dass sich alle Menschen in allen Bereichen permanent selbst verbessern sollten?
Ich denke, wir leben in einer sehr ökonomisierten Gesellschaft und daraus hat sich ein Primat der Ökonomie ergeben. Die Ökonomie ist bei den Wertvorstellungen auf höchster Stufe. Das hat eine enorme Kraft und entfaltet sich auf andere Lebensbereiche. Ökonomie arbeitet viel mit quantifizierbaren Zahlen, Daten, Fakten. Das ist sexy. Sie können Fortschritte beim Sport sehen und schnell messen.
Die Menschen leben heute in einer Gesellschaft, die sehr frei, sehr liberal ist. In der es keine starren Regeln, Vorgaben mehr gibt, keine Tabus. Damit fehlen Stützen, Pfeiler im Leben, die Orientierung geben und Halt. Übernimmt das heute die Selbstoptimierung?
Wenn ich mich an Zahlen, Daten, Fakten in den verschiedensten Lebensbereichen orientiere zur Kindererziehung, zu meinem eigenen Freizeitverhalten, zu meiner Arbeit, zum Sport, habe ich einen vorgezeichneten Weg. Wenn ich im Smartphone die vielen Fitnessapps aufmache, weiß ich immer: Wo bin ich jetzt? Wo muss ich hin? Der Weg ist vorgezeichnet. Das gibt Orientierung in unserer Gesellschaft, die sich sonst dadurch auszeichnet, dass sie unglaublich heterogen, widersprüchlich ist.
Früher hat die Religion Normen, Werte vorgegeben, festgelegt. Heute haben viele keinen Bezug mehr dazu. Können sich nicht mehr damit identifizieren.
Gott als Norm, das hat sich verändert. Diese Norm war früher etwas, das sehr schwer zu erreichen war. Die Selbstoptimierung ist ein bisschen ein Religionsersatz geworden, wenn es darum geht die eigene Identität oder den Sinn im Leben zu finden. Das ist sehr viel leichter zugänglich, als religiöse Dinge, die weniger leicht greifbar sind.
Und die Grundlage, die Basis dieser neuen Religion ist der Vergleich mit anderen.
Heute ist es so, dass wir uns daran halten müssen, was andere tun. Dass wir uns an anderen Menschen orientieren und uns mit anderen Menschen vergleichen. Wir sind eine Vergleichsgesellschaft geworden. Wir haben diese Vergleichsorientierung.
Wer ist der neue Gott? Wer gibt die Normen vor?
Influencer sind jene, die Normen vorgeben. Sie vermitteln ein Idealbild, eine Idealvorstellung. Der Unterschied ist, dass es weniger Toleranz gibt, wenn ich die Norm nicht erreiche. In der Religion gibt es Mechanismen. Im christlichen Weltbild gibt es die Vergebung. Ich kann mich entschuldigen, ich kann um Vergebung bitten, auch bei schweren Vergehen. Das kann ich heute nicht mehr. Hier gibt es keine Entschuldigung, sondern jeder ist seines Glückes Schmied und verfolgt den Weg und wenn ich das nicht schaffe, bin ich ein Looser.
Eine extreme Entwicklung. Angenommen dieser Zug der Selbstoptimierung fährt immer weiter. Immer schneller. Optimiert sich immer stärker. Wird er irgendwann entgleisen?
Da müsste ich in die Zukunft sehen können. Es ist schwer zu sagen, wie das ausgeht, weil solche Entwicklungen nicht linear sind. Es kann passieren, dass immer mehr Bereiche optimiert werden. Ich glaube, dass die Bedeutung von Technologien in den verschiedensten Bereichen der Optimierung zunehmen wird und dass sie sich ein stückweit vom Menschen abkoppelt. Sodass der Mensch selbst nicht mehr optimiert werden muss. Das wäre denkbar.
Wäre auch denkbar, dass die Selbstoptimierung jemals wieder endet?
Zum Teil gibt es eine Gegenbewegung. Ich denke zum Beispiel an die Vereinigten Staaten, wo es diesen Trend zum Digitalen Minimalismus gibt. Wo die Menschen Technologie plötzlich wieder so wenig wie möglich nutzen möchten. Das sind alles zarte Pflänzchen, aber man kann nicht voraussehen, ob das tatsächlich ein echter Hype wird. Ob es modern wird, diese ganzen Selbstoptimierungs-Apps nicht mehr zu haben und diese technischen Errungenschaften nicht mehr mit sich herumzutragen. Das ist natürlich auch möglich.
Dr. Christoph Augner ist Psychologe und Hochschullehrer. Bereits 2020 hat er das Buch „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“ geschrieben. Im Interview erklärt er, was Christopher Columbus mit Selbstoptimierung zu tun hat. Was passiert, wenn ein Wirtschaftsansatz auf den Menschen übertragen wird. Und warum Influencer die neuen Götter sind.
Warum Selbstoptimierung keine Lösung ist
Tipps von Buchautor und Psychologe Dr. Christoph Augner
Mit diesen 5 Tipps von Christoph Augner lernen Sie, wie Sie Ihren Perfektionismus und Ihre Selbstoptimierung überwinden und so Ihren Fokus wieder auf das Wesentliche lenken können.
»Mehr in weniger Zeit«, dieses Credo gilt mittlerweile für alle Lebensbereiche. Wir optimieren Arbeit, Kinder, Partner, Wohnen und vieles mehr. Indem wir schnell und viel machen, haben wir das Gefühl beschäftigt zu sein und etwas Sinnvolles zu tun. Doch leider ist das ein Fehlschluss: Alles effizienter gestalten, immer mehr in weniger Zeit, nach Perfektion streben, alle Optionen nutzen wollen, nichts versäumen und überall möglichst viel rausholen – das sind keine »Glücklich-Macher«. Im Gegenteil, wir zahlen dafür einen hohen Preis. Vor lauter »Tun« verlieren wir den Blick auf das Wesentliche. Und obwohl wir so viel erleben, kommt uns die innere Erlebnisfähigkeit abhanden.
Wir werden blind für das, was das Leben für uns bereithält. Wir vergleichen uns mit anderen, weil wir keinen Sinn mehr dafür haben, was wir selbst möchten. Dabei ist es gar nicht so schwer, diese Fähigkeiten wieder zurückzuholen und Selbstoptimierung und Perfektionismus hinter sich zu lassen.
1. Auf Stabilität im eigenen Leben achten
Die Stimme der Selbstoptimierung sagt: Der jetzige Zustand ist nicht gut genug, ändere ihn! So ist es kein Wunder, dass wir an jeder Hausecke Sprüche hören wie: »Das Leben ist Veränderung«, »Wer rastet, der rostet«. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Leben besteht natürlich aus Veränderung, aber eben auch aus Stabilität. Sich um stabile Verhältnisse im eigenen Leben zu bemühen ist ein wichtiger Grundpfeiler für die psychische Gesundheit. In der Stabilität finden wir Orientierung. Erst durch einen inneren Rahmen finden wir in Krisen, die tatsächlich Veränderung erforderlich machen, die nötige Kraft. Wenn Sie also gerade einen Veränderungsprozess durchlaufen: Achten Sie darauf, dass sich nicht alles ändert, dass Ihnen stabile Bezugspunkte bleiben.
2. Rein statt raus aus der Komfortzone
Das ist kein Aufruf zur Bequemlichkeit. Es geht nicht darum, es sich im Leben gemütlich zu machen. Eine Komfortzone vermittelt das Gefühl von Geborgenheit, etwas, was wir im Selbstoptimierungszeitalter so dringend brauchen. Ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft kann nicht gelingen. Eine Komfortzone kann vieles sein: ein äußerer Ort, an dem man Ruhe findet; eine Fantasiereise nach einem stressigen Tag; von bestimmten Menschen oder Dingen umgeben zu sein. Seine eigene Komfortzone kennt jeder intuitiv selbst. Bewusst Situationen zu schaffen, in denen Geborgenheit und Sicherheit entstehen kann – das ist für die Ent-Optimierung unerlässlich.
3. Mäßigung als Lebenstugend
Wissen, wann es genug ist, ist eine wichtige Fähigkeit in Zeiten des Überflusses. Bei Seneca findet sich der Begriff der Seelenruhe, die nur möglich wird, wenn wir eine Balance zwischen kurz- und langfristigen Zielen, zwischen inneren Motiven und den Bedürfnissen unserer Umwelt erreichen. Mäßigung heißt nicht, einfach auf alles zu verzichten und die eigenen Gefühle zu ignorieren, sondern sie zu integrieren. Wenn ich nicht zulasse, dass mich meine Emotionen durchs Leben treiben, kann ich langfristig besser im Einklang mit meinen Bedürfnissen leben. Mäßigung heißt: die Kontrolle über den eigenen Wirkungsbereich bei sich selbst einzufordern, es heißt: leben statt gelebt zu werden.
4. Die eigenen Werte finden
Ein Mensch, der sich seiner Werte nicht bewusst ist, ist wie ein Schiff ohne Steuerfrau oder -mann. Das Schiff hat kein Ziel, keine Route, treibt orientierungslos im Meer. Da hilft auch der leistungsfähigste Motor, die hohe Geschwindigkeit nichts. Philosophie und Psychologie zeigen gleichermaßen: Es ist besser, Werte zu haben, als keine zu haben. Am besten sind Werte, die uns mit den Menschen und der Welt in Verbindung bringen, indem wir anderen helfen und uns aktiv um Freundschaften bemühen. Diese Werte lassen uns zufriedener sein, als wenn wir nur persönlicher Nutzenmaximierung und materiellen Zielen folgen.
5. Auswählen, ausblenden, Prioritäten setzen
Bündeln wir unsere Aufmerksamkeit auf das, was wirklich wichtig ist. Widmen wir uns diesen Prioritäten – und lassen wir alles andere weg. Machen wir uns immer bewusst, warum wir uns für etwas entschieden haben – und damit gegen so vieles andere, was auch möglich wäre. Dann ist es leichter, Strategien zu entwickeln, wie wir die vielen zeitfressenden Ablenkungen und Vergleiche der Optimierungsgesellschaft ausblenden können. Unsere Persönlichkeit entwickeln wir nicht, wenn wir auf andere schauen, ihre Social Media Accounts verfolgen oder Prominente imitieren. Wir entwickeln sie, indem wir unseren eigenen Prioritäten folgen.
Text: aus: Christoph Augner, Selbstoptimierung ist auch keine Lösung. Schluss mit dem Perfektionswahn © Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2020 www.verlagsgruppe-patmos.de
In: Pfarrbriefservice.de